Peter Stamm fordert mich heraus

Drei Mal habe ich Peter Stamms neuen Roman gelesen. Und drei Mal anders. Mein Urteil aber steht eindeutig fest: «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» ist ein irritierend schönes Buch. Ein Kunstwerk über Traum und Wirklichkeit, das den Schweizer Buchpreis 2018 verdient hat! 

Annette König liegt mit dem Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" von Peter Stamm im Schnee.
Vom leisen, spurlosen Verschwinden im Schnee: ein wiederkehrendes Thema auch in «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt». Der Roman spielt u.a. in Stockholm und im Engadin. Darum liege ich in Samedan im Schnee und harre meinem Schicksal.

«Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» ist ein Vexierspiel. Die Geschichte eines liebeskranken Mannes, der zufällig seinem jüngeren Alter Ego begegnet. Diesem nachstellt, ihn anspricht, ihm seine Geschichte erzählt. Die Geschichte seiner unglücklichen Liebe zu Magdalena. Warum er das macht? Er will Magdalena zurück. Und das hat sein jüngerer Doppelgänger in der Hand. Er wird Magdalena erst noch begegnen. Ob er die Beziehung retten kann?

 

Drei Mal hab ich diesen Roman gelesen. Das erste Mal mit sanfter Gleichgültigkeit. Ich war einfach nicht in Laune für diese Doppelgänger-Geschichte. Das zweite Mal mit Eifer. Ich wollte das Räderwerk an Geschichten entwirren, die in diesem Roman ineinandergreifen. Das dritte Mal mit grosser Begeisterung für Stamms Metaphysik. Für die letzten Fragen, die der Autor in seinem Buch zur Sprache bringt: Hat unser Dasein einen Sinn? Gibt es Schicksal? Können wir ihm entrinnen? Wie lebt es sich mit verpassten Chancen? Wenn wir unser Leben nochmals leben könnten, würden wir alles anders machen? Was würde das ändern? Oder müssen wir uns am Ende mit der «sanften Gleichgültigkeit der Welt» abfinden?

Skizze des Doppelgängertums aus "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" von Peter Stamm.
Peter Stamms anspruchsvolles Doppelgängertum: Lena, die Doppelgängerin von Magdalena, mag die Vorstellung, dass alles, was ihr geschieht, schon einmal jemandem geschehen ist, einen Zusammenhang hat und einen Sinn ergibt.

Daumen rauf

  • Vielschichtiges Buch, in dem sich Fiktion und Wirklichkeit vermischen. Peter Stamm ist ein Denker. Die Dekodierung seiner Geschichte, war darum eine spannende Herausforderung für mich.
  • Grossartige Komposition. Der Ich-Erzähler ist ein alter, einsamer Mann. Er lebt in einem Altersheim. Oft verliert er sich in Klarträumen, in denen Magdalena, seine grosse Liebe auftritt: «Sie besucht mich oft, meist kommt sie in der Nacht. Dann steht sie neben meinem Bett, schaut auf mich herunter und sagt, alt bist du geworden». Dann an einem Morgen steht Magdalena draussen vor dem Fenster. Sie ruft ihn. Er folgt ihr, während er sich erinnert wie sie «Arm in Arm durch Stockholm gewandert sind in jener Nacht, in der ich ihr meine Geschichte erzählte, in der ich ihr ihre Geschichte erzählte.» Nach diesem Einstieg beginnt die eigentliche Rahmenhandlung. Der alte Mann ist nun wieder 50 Jahre alt. Er hat in Stockholm ein Date mit Lena, einer jungen Schauspielerin. Und er erzählt ihr von seiner Liebe zu Magdalena und von seiner Doppelgänger-Geschichte. Spooky.
  • Nachdenklich. Peter Stamm gibt keine pfannenfertigen Antworten auf die Frage nach unserer Existenz. Vieles wird angedacht, alles bleibt offen. Und trotzdem verstehe ich.
  • Einfache Sprache. Klar, direkt. Nicht episch, sondern sec. Ein sprachlicher Minimalismus, der mir gefällt. Gerade im Unspektakulären liegt Peter Stamms Talent.
  • Als Stammianerin komme ich voll auf meine Kosten: 20 Jahre nach dem Erscheinen seines Debütromans knüpft der Autor an «Agnes» an. Die Spurensuche nach den intertextuellen Bezügen hat mir Spass gemacht. Knobelfrage: «Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet». Ähm. Stimmt das jetzt noch?
  • Sehr persönlich. Ich erfahre wie Peter Stamm zum Schreiben steht. Wie das ist, wenn man auf Lesetour wieder dorthin kommt, wo man aufgewachsen ist. Wuahhhhh.
  • Inspirierende Lektüre. Dank Stamms Roman habe ich mal wieder Max Frischs Theaterstück «Biografie. Ein Spiel» zur Hand genommen. Darin geht es im Kern um das Gleiche wie bei Stamm. Einfach anders, viel analytischer erzählt. Der Protagonist kann seinen Lebenslauf nochmals durchspielen, kann wichtige Entscheidungen nochmals fällen. Doch er schöpft seine Möglichkeiten nicht aus. Das Schicksal nimmt seinen Lauf.

Daumen runter

Die Lektüre war mir zwischendurch zu kopflastig. Und ich habe mich in diesem Verwirrspiel wie Alice im Wunderland gefühlt, die sich durch einen luziden Traum zu kämpfen hat.

Der Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" von Peter Stamm liegt auf einem Teller.
Ich habe «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» mit Hingabe durchgekaut.

Der Autor

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Nach seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen fünf weitere Romane, zuletzt der Roman «Weit über das Land».

 

Das Buch: Peter Stamm: «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (2018, S. Fischer)

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