Ein literarischer Höhenflug

So einen cleveren Krimi wie Young-ha Kims «Aufzeichnungen eines Serienmörders» habe ich noch nie gelesen! Für mich ist dieses Buch ein Überflieger: scharfsinnig, verdichtet, poetisch, schlicht. Eine einzigartige Mischung aus literarischem Tagebuch, Haiku und Ermittlungsgeschichte. Unglaublich!

Young-ha Kims "Aufzeichnungen eines Serienmörders" fliegt hoch in die Luft.
Tiefgründig - beständig - nachdenklich

Tierarzt Byongsu Kim, 70, pensioniert, hat schon lange nicht mehr gemordet. Er ist aus dem Alter raus. Jetzt liest er lieber Klassiker, schreibt Gedichte und spaziert in seinem Bambushain. «Wenn ich die Blätter rauschen höre, bin ich in Gedanken bei jenen, die hier begraben liegen. Bei den Leichen, die nun als Bambus in die Höhe schiessen, dem Himmel entgegen.» Byongsu Kim denkt gerne an die Vergangenheit zurück. Das waren schöne Zeiten, als die Lust am Töten noch seine grösste Leidenschaft war. «Bei jedem Opfer, das ich begrub, sagte ich mir, beim nächsten Mal machst du es besser. Als ich diese Hoffnung nicht mehr hatte, gab ich das Morden auf.» Das war vor 25 Jahren.

 

Doch eines Tages begegnet Byongsu Kim einem Mann. Intuitiv weiss er: dieser Typ ist wie er, ein kaltblütiger Serienmörder! Um seine Tochter zu schützen, plant er seinen letzten Mord. Doch die Sache eilt. Denn Byongsu Kim ist dement. Er muss den Killer umbringen, bevor er vergisst, wer er ist. Ein mörderischer Wettlauf mit der Zeit beginnt!

Poetisch: Zitat aus «Aufzeichnungen eines Serienmörders» von Young-ha Kim
Poetisch: Zitat aus «Aufzeichnungen eines Serienmörders».

Daumen rauf

  • Literarisch. Dieser Krimi könnten aus der gemeinsamen Feder von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt stammen: unerbittlich wie «Das Versprechen», altersweise wie «Der Mensch erscheint im Holozän» und anregend wie Frischs Tagebücher. Juchu! Auch ein Krimi kann Weltliteratur sein.
  • Politisch. Dieser Krimi wird vor dem Hintergrund koreanischer Geschichte erzählt. Die Handlung spielt im heutigen Südkorea. Doch Young-ha Kims Mörder blendet in seinen Aufzeichnungen immer mal wieder zurück. Schildert warum er in den 70er Jahren mit dem Morden angefangen hat. Die Gründe sind auch systembedingt: Krieg, Repression, Propaganda. Mehrfach wird er nicht gefasst, weil seine Tötungsdelikte in die Schuhe von nordkoreanischen Spionen geschoben werden. Doch die südkoreanischen Polizei-Funktionäre täuschen sich: Der Teufel ist nicht der Kommunismus und Nordkorea. Der Teufel ist ein anderer...
  • Glaubwürdig. Dieser Krimi ist so echt, dass mich beim Lesen das Gefühl beschleicht «vor dem schwarzen, weit aufgerissenen Maul einer Höhle zu stehen». Mit dieser trefflichen Metapher ist die schwarze Seele von Mörder Byongsu Kim gemeint. Sein geheimes Tagebuch zu lesen heisst, mit ihm seine Wahrnehmung, seine intimsten Gedanken und Gefühle zu teilen und mit ihm in die Finsternis seiner Demenz abzugleiten.
  • Feinsinnig. Dieser Krimi beinhaltet weit mehr als einen fesselnden Plot. Er ist eine philosophische Betrachtung über Leben und Sterben, über Altwerden und Vergessen. Young-ha Kim setzt sich mit altersbedingter Demenz auseinander. Lässt mich erahnen wie das ist, wenn man langsam aus der Welt fällt, weil das Ich verschwindet.

Daumen runter

Nichts.

"Die Aufzeichnungen eines Serienmörders" von Young-ha Kim liegen auf einem Teller mit Essstäbchen.
Ich habe Young-ha Kim mit Heisshunger wie ein koreanisches Nudelgericht reingestäbelt.

Der Autor

Young-ha Kim wurde 1968 geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten koreanischen Schriftsteller seiner Generation. Er erhielt alle renommierten Literaturpreise seines Landes. Seine Romane, Erzählungen und Essays wurden in alle Weltsprachen übersetzt. Kim lebt in Seoul und teilweise in Kanada, den USA und Italien. «Aufzeichnungen eines Serienmörders» war in Korea der No. 1 Beststeller in Fiction.

 

Das Buch: Young-ha Kim: «Aufzeichnungen eines Serienmörders» (Cass Verlag, 2020)

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