Was für ein Dilemma!

Ich bin unschlüssig, was ich von Edward St Aubyns Roman «Dilemma» halten soll. Doch vielleicht ist das die clevere Absicht des Autors. Auch seine Romanfiguren befinden sich in einer Zwangslage und werden von den Launen des Schicksals wie Ping-Pong-Bälle über den Tisch geschlagen.

"Dilemma" von Edward St Aubyn muss sich mit zwei Ping-Pong-Bällen herumschlagen.
Schnell, trickreich und mit viel Spin: Edward St Aubyns «Dilemma» ist ein sportliches Buch. Ich muss volle Konzentration aufbringen, um keine Klatsche zu kassieren.

Sussex heute. Der junge Naturforscher Francis lebt allein auf dem englischen Landgut Howorth. Hier dokumentiert er im Rahmen eines Renaturierungsprojekts die Wiederkehr verschwundener Tier- und Pflanzenarten und führt Besucher über das Anwesen. Er liebt die Einsamkeit und seinen Job. Und sieht es als seine Lebensmission, die Vernachlässigung und Zerstörung des Planeten durch den Menschen zu stoppen.

Auch Olivia, Francis Freundin, ist Biologin und kämpft für eine Welt, in der sich Ökonomie und Ökologie im Einklang befinden. Sie schreibt an ihrem ersten Buch über Epigenetik. Darin geht es um Vererbungslehre.

 

Und dann ist da noch die Karrieristin Lucy, Olivias beste Freundin. Sie arbeitet für einen amerikanischen Milliardär und leitet das Londoner Büro seiner Risikokapitalgesellschaft für digitale, technologische und wissenschaftliche Unternehmen. Mit ihrer Tätigkeit will sie einen grundlegenden Beitrag für die Forschung leisten.

Doch dann erkrankt Lucy an einem Hirntumor. Dieser Schicksalsschlag verändert ihr Leben und das ihrer Freunde von einem Tag auf den andern.

Skizze des Glückshelm aus "Dilemma" von Edward St Aubyn.
«Dilemma» ist voller Einfälle. Beispielsweise gibt es da den Capo Santo, ein Glückshelm. Setzt man ihn auf, kann man mystische Erfahrungen machen. Lucys Chef verspricht sich ein Milliardengeschäft. Er hat dafür das Hirn eines Franziskanermönchs gescannt.

Daumen rauf / Daumen runter

  • Dilemma Nr. 1: Dieser Roman erzählt mit grossem Pathos von wahrer Freundschaft. Doch kratzt man an der Oberfläche, stellt sich heraus: weder das Pathos ist echt noch die Freundschaft selbstlos.
  • Dilemma Nr. 2: Dieser Roman verklickert mir die neusten Studien aus den Forschungsbereichen der Genetik, Epigenetik, Botanik, Neurowissenschaft, Psychiatrie etc. Begierig sauge ich das Wissen auf. Doch die Datenfülle ist zu gross, als dass ich sie verarbeiten kann. St Aubyn ist kein begnadeter Wissensvermittler. Seine Erklärungen sind umständlich, verworren und viel zu dicht.
  • Dilemma Nr. 3: Dieser Roman bringt mich zu luxuriösen Schauplätzen in Sussex, London, Kalifornien und Südfrankreich. Mit grossem Genuss und voyeuristischem Kitzel lese ich St Aubyns Darstellung der Reichen. Lucys Milliardär beispielsweise ist ein massloser Drogenjunkie. Er braucht den Adrenalinkick bis zur Bewusstlosigkeit, um sich lebendig zu fühlen. Die Welt der Eliten ist St Aubyn vertraut. Dafür hat er eine präzise Sprache. Für andere Welten nicht.
  • Dilemma Nr. 4: Und auch wenn mich dieser Roman zu meinem eigenen Renaturierungsprojekt inspiriert und ich im Garten einen Mini-Teich anlege: «Dilemma» kommt für mich nicht an St Aubyns Romanzyklus «Patrick Melrose» heran. Diese Darstellung einer Drogensucht ist ein Meisterwerk. Der Autor erzählt darin seine eigene fatale Lebensgeschichte.
 "Dilemma" von Edward St Aubyn geht fast baden.
Partytime am Teich: Mit Kaviar, Canapés, Champagner und grünen Smoothies lassen sich Lucy und ihre Freunde gerne bewirten.

Der Autor

 

Edward St Aubyn wurde 1960 in eine der bekanntesten Familien des englischen Adels hineingeboren. Seine von der Kritik hochgelobten und international erfolgreichen Patrick-Melrose Romane gelten schon heute als moderne Klassiker und wurden von internationalen Literaturkritiker*innen unter die 100 bedeutsamsten Bücher der englischen Literatur gewählt. St Aubyn lebt in Notting Hill, London.

 

Das Buch: Edward St Aubyn: «Dilemma» (Piper, 2021)

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